Nahtoderfahrung - und was ich damit verbinde (Nahtod, Gehirn)





Teil 2

Diese unbeschreibliche Nacht stieß eine Kaskade an Überlegungen an, beginnend mit der Frage, ob ich noch ganz bei Sinnen war. So lange ich mir selbst keinen Reim auf das Erfahrene machen konnte, beschloss ich, erstmal niemandem von dieser Begebenheit zu erzählen. Ich musste herausfinden, welche Bedeutung dieses Phänomen hatte.

Über viele Monate trug ich akribisch alles an Infos zusammen, was ich finden konnte. Dabei wurde mir bald klar, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab, teilte ich doch diese Erfahrung mit mehr Menschen als ich anfänglich gedacht hätte. Ganz langsam wurde mir bewusst, dass es auch ein Geschenk war, in einen Kosmos eintauchen zu dürfen, der den meisten verborgen bleiben wird. Allerdings war der Preis dafür ziemlich hoch. So berauschend das Glücksgefühl bei einer NTE am Ende ist, so schmerzvoll war die Erfahrung des Sterbens, die dem vorausging. Fast erschien es mir symbolhaft für das Leben an sich – Vergänglichkeit ist die Verbündete von Entstehen und Werden.

In den ersten Jahren  meiner Nachforschungen stieß ich fast nur auf esoterisch eingefärbte Berichte. Kaum eine brauchbare empirische Studie war zu finden. Durch meine eigene NTE war mir gewahr, dass nicht die Inhalte einer NTE Motor für eine Aufklärung sind, sondern die neurobiologischen Zusammenhänge. So wie man Trauminhalte nicht quantifizieren kann, sind sie doch an die individuellen Erfahrungswelten des Träumenden gekoppelt. Wo setzt man an, um auch Menschen, die noch nie eine NTE hatten, eine nachvollziehbare Substanz anzubieten?

Ich finde es schade, ein so interessantes Phänomen in eine metaphysische Ecke zu schieben, die automatisch alle nicht Eingeweihten ausgrenzt. Das stellt für mich keine Einladung an das Leben, sondern eine Abtrennung dar. Wissenschaftliche Ansätze bieten wenigstens Raum für Reproduzierbarkeit und Einsicht. Kein mystischer Geschmacksverstärker, keine übersinnliche Aufhübschung kann den Blick auf die Gegebenheiten vernebeln.

Und doch bin ich versucht zu sagen: Die Fähigkeit des Gehirns zu einer NT-Simulation ist ein Gesamtkunstwerk auf höchstem Level schöpferischer Energie. Losgelöst von innerlichen Begrenzungen, im außerrhythmischen Freiflug, gibt es keine Konstrukte mehr, die vertraut. Hier fügt sich zusammen, was vorher nicht in Verbindung stand, hier trommeln Synapsen einen gemeinsamen Takt, der zu Höchstleistungen in der Wahrrnehmungsswelt führt.

Ich verstehe natürlich, dass solch eine außergewöhnliche Erfahrung zu wilden Spekulationen verführt und einen Sinn hineindeuten lässt, der der eigenen Wunschwelt entspricht. Die Vorstellung z. B. eines paradiesischen Weiterlebens nach dem Tod ist zu verlockend.
Mich selbst hat dieses Motiv nie angesprochen.

Eine NTE kommt nicht aus dem Nichts. Sie wird von unserem Gehirn in einem höchst instabilen Kontext ausgelöst. Dabei ist nicht von Bedeutung, ob der impulsgebende Moment künstlicher oder natürlicher Art ist.
Das Phänomen sagt nichts über ein Leben nach dem Tode aus. Es ist eine Interpretation eines Organismus, der sich im Sterben, in einem Abtrennungsprozess fühlt. Eine NTE ist Teil des Lebens und nicht der Zustand nach dem Tod. Sterben ist Loslösung von gewohnten Mustern, ein über Grenzen Hinweggleiten, eine Verabschiedung von allen vertrauten Parametern. Dies kann in einem langen Prozess erfolgen oder in Sekundenbruchteilen (wie in einer NTE). Wir dürfen nicht vergessen, dass wir schon mit unserer Geburt in einen Sterbeprozess eintreten.

Für den NT-Erfahrenden ist jedes Zeitgefühl ausgehebelt. Viele durchlaufen dabei nochmals ihr ganzes Leben in einer Art Zeitrafferfilm.
Das Gefühl der Lebenszeit ist bei jedem Individuum unterschiedlich. Eine Eintagsfliege nimmt einen Tag ihres Lebens wie wir unsere vielleicht 80 Jahre Lebenszeit wahr. Für einen hunderte Jahre alten Baum mögen 10 Jahre seiner Lebenszeit wie ein einziger Monat für uns sein. In jedem Wesen ist die Zeittaktung und –wahrnehmung anders gegeben. Sie ist ein Konstrukt und somit wandelbar.


(zu gegebener Zeit mehr)