Die Freiheit des Verzichts



„Die größte Form der Freiheit ist nicht, sich allein möglichst viele Optionen zu erhalten und zu schaffen, sondern die des Verzichtenkönnens, wenn der Verzicht einen wesentlich tieferen freiheitlichen Sinn erfüllt“

Was meine ich damit:

In Zeiten von Corona demonstrieren viele Menschen für den Erhalt ihrer Freiheit, sie wollen sich das Recht bewahren, auf keine Option verzichten zu müssen und einen Zustand erhalten, auf ein möglichst reichhaltiges Angebot zugreifen zu können, ohne in irgendeiner Form in ihrer Wahl eingeschränkt zu werden. Je größer ihr Wahl-Spektrum, je vermeintlich freier nehmen sie sich wahr.

So lange jedoch das Gefühl von Freiheit damit korreliert sein mag, sich abhängig zu machen von Gewohnheit, Selbstverständlichkeit, von Zuständen, die dem Individuum möglichst viel zu bieten haben, wird die eigene Kreativität (Not macht bekanntlich erfinderisch) nicht sonderlich gefordert, sondern vor allem der Bereich, der für das Wählen zwischen all der Möglichkeiten verantwortlich ist. Je reichhaltiger das Angebot, je weniger bleibt Zeit, über das Einzelne zu reflektieren, je weniger weiß man feine Nuancen, und damit Bedeutungen, die vielleicht einmal von lebenserhaltenem Wert sein mögen, wahrzunehmen oder zu schätzen.

Ist man tatsächlich autonom, wenn man seine Freiheit an einen bestimmten Zustand koppelt? Macht man sich damit nicht abhängig von Gegebenheiten, die man unbedingt für sein Gefühl der Freiheit, des Glücklichseins und der Unabhängigkeit braucht?

Bin ich nicht autonomer, wenn ich die Kraft habe, auf etwas verzichten zu können, wenn ich mir einen Handlungsspielraum bewahre, der sich nicht auf Altbekanntes stützt, sondern auf eine neue Sinngebung, auf eine Neubewertung meiner bisherigen Selbstverständlichkeiten, indem ich offen bleibe für Unvertrautes?

Vielleicht sind wir in der heutigen Leistungsgesellschaft auch zu sehr daran gewöhnt, alles auf einmal haben und bewältigen zu wollen. Unsere Mechanismen sind schon so auf Wachstum geeicht, dass wir ein Weniger gar nicht mehr auf dem Wahrnehmungsradar haben, es wie einen Makel betrachten. Dabei vergleichen wir uns immer weniger mit dem Lebendigen, Ungenauen, sondern mehr und mehr mit technischen Getrieben, die unsere Schnelligkeit bei gleichzeitiger Präzision herausfordern. Dieser Konflikt treibt uns um, lässt uns keine Zeit mehr zum Innehalten und Abgeben. Dabei liegen die Stärken des Lebendigen gerade auf der Ungenauigkeit, dem Zulassen- und Wahrnehmenkönnen des Lückenhaften, weil uns nur die Lücke die Fülle erkennen lässt. Das Leben ist Unterschied. Ich BRAUCHE nicht nur Nahrung, Wasser, Wärme, Kooperation (schon im Kleinsten: der Zellverbund unseres Organismus), ich BIN Nahrung, Wasser, Wärme, Kooperation, Unterschied.